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Sie

Nun war sie fort, seit über einer Woche schon. Es war seine Schuld, daran bestand kein Zweifel. Er hätte besser auf sie achten müssen. Stattdessen war er vor den Streitereien davon gelaufen, hatte sich feige vor der Wut versteckt. Sie wäre nicht gegangen, wenn er für sie da gewesen wäre. Da war er sicher.

Jetzt war alles noch viel schlimmer geworden. Die Wohnung glich einem Spermüllhaufen und es stank bestialisch nach geschlossenen Fenstern. Wenn er nicht schlief, soff er und wenn er soff...

Er schüttelte die Vorstellung von sich.

Die Schrankwand aus besseren Zeiten blickte ihn zerschlagen und traurig an. Manchmal hatte er den Eindruck, sie würde sich in den Scherben der Vitrine spiegeln und ihn mit ihren großen melancholischen Augen anlächeln. So, wie sie es häufig vor dem Zubettgehen getan hatte. Wenn sie von alten Zeiten erzählte und von ihrer Jugend in der Stadt. Damals war sie glücklich gewesen, so voller Leben...

Er hätte besser auf sie achten müssen.

Es war schwer für sie gewesen. Doch manchmal hatte er sie trotzdem gehasst. Besonders, wenn sie ihn alleine ließ. Allein mit seiner Angst. Und mit der Wut. Die war fast immer schneller als er. Sie kam einfach über ihn und fraß seine Gedanken. Dann nur noch Leere... Er fror.

Am Ende war sie nur noch Angst gewesen und ständig auf der Flucht vor zerkochten Kartoffeln, falschen Worten und dem Salz in der Suppe. Damit musste man vorsichtig sein, das hatte er gelernt.

Vor zwei Wochen - die Wut war gerade satt - hatte sie ihm von einem wunderbaren Ort erzählt. Von einer Welt, in der alle Menschen freundlich waren und den ganzen Tag Schokolade aßen. Wo er Freunde hatte, die er zum Geburtstag einladen durfte. Sie strahlte dabei und lächelte diesen ganz besonderen Blick. Daran musste er jetzt denken. Ob sie dort war...? Nein! Dann hätte sie ihn mitgenommen, ganz bestimmt.

Hätte er doch nur...

Er musste sie finden, musste ihr erzählen, dass nun alles anders war. Sie brauchte keine Angst mehr zu haben, er würde für sie sorgen, ihr schöne Kleider kaufen. Wie das, das sie letzten Montag trug, als sie so friedlich lächelnd in der Kirche lag.

Sie konnte nun zurückkommen!

Er wischte ihm das Blut von der Stirn und deckte ihn zu. Er sollte nicht frieren, jetzt, wo alles anders war.
Dann ging er sie suchen.

Copyright © 2004 by Hannah. Letzte Änderung am 04.09.2004