Erinnerst du dich noch an den
letzten Sommer?
Es war heiß und stickig, die Luft
lag wie ein chloroformgetränkter Wattebausch über der Stadt und machte alles
und jeden träge und müde.
Erinnerst du dich noch an den
letzten Sommer?
Diese Frage schießt Adrian jetzt
ein Jahr später- einen Sommer später- durch den Kopf. Blitzlichtgewitter in
seinem Kopf, 984 Bilder flackern auf, 984 Bilder die nichts zeigen außer die
984 Farben einer einzigen Stimmung. Aber das Bild der Person, der er diese Frage
eigentlich stellt, fehlt oder bleibt im Dunkeln.
Monologe in seinem Kopf laufen in
einer Endlosschleife. Die Zeit der Gespräche ist vorbei, der Sommer ist vorbei,
zumindest der Letzte. Adrian unterhält sich nur noch mit sich selbst, sein
Gegenüber ist nicht mehr da. Die Außenwelt ist nicht mehr da, alle Formen haben
sich aufgelöst. Er ist nur noch ein Mensch oder ein halber, keine Ahnung.
Frage: Wann ist ein Mensch ein
Mensch und wann ist ein Mensch ein Halber?
Frage: Was ist die Summe aus
zwei Menschen?
Und was ist die Summe aus zwei
halben Menschen?
Was passiert, wenn 1 Milliarde
Chinesen vom Stuhl springen?
Was passiert, wenn zwei halbe
Menschen sich zu einem addieren und mit einer Milliarde Gedanken in einem Kopf
versuchen die Stadt zu besiegen?
Zwei Arme, zwei Beine, einen Kopf
voller Blitzlichterinnerungen, mit 984 Bildern, und genau ein Bild zu wenig,
als dass er sich selbst spüren könnte.
Vor einem Jahr war alles anders, da
spürte er sich durch sie, hatte das Gefühl, die ganze Stadt läge ihnen zu
Füßen. Unter ihnen brannte der Nordstadtstraßenasphalt ließ sie beide nicht
still stehen, immer weiter, immer vorwärts, alles war möglich und erreichbar.
Wären sie beide stehen geblieben, sie wären wahrscheinlich verbrannt. Also
immer weiter, jede Hausecke war ein Verbrechen wert und jede Straßenlaterne ein
Galgen an dem sie hätten hängen können. Sie hielten sich für Terroristen,
verkrochen sich nachts in die Betonfalten der Stadt und träumten vom großen
Knall der alles um sie herum in winzige Puzzleteile dividieren würde. Ihre
pulverige Instantträume brachten immer etwas zum Einsturz und wenn es nur das
Gedankenkonstrukt der Nacht zuvor war.
Adrian und sie- ihr Name steht
auf dem 985ten Bild- waren Regisseure und Hauptdarsteller ihres eigenen Roadmovies.
Jede Handlung, jede Geste war durchdacht; schnelle Schnitte und Farbabfolgen,
wie es sie nur geben kann, wenn zwei Genies sich verbinden. Immer wieder
Überblendungen, Häuser wurden zu Menschen, die in der nächsten Sekunde wieder
zu Beton erstarrten. Alles was sie sahen und taten wurde größer, wucherte in
ihren Köpfen. Bilder die für ein ganzes Leben gereicht hätten, wurden in diesem
letzten Sommer in wenigen Wochen verbraucht, verschwanden in den langsam größer
werdenden schwarzen Ecken ihrer Köpfe. Sie waren ein Mensch und wurden eins mit
Nero und Adolf Hitler, mit Andreas Baader und Jesus Christus. Ständig den
Finger am Abzug in ihren Köpfen. Immer ein neuer Traum vor den Augen, mit
Rasierklingen in Form gebracht, sich spiegelnd, sie spiegelnd.
Im letzten Sommer haben wir die
Stadt bekämpft, erinnerst du dich, Adrian.
Er erinnert sich, an die Stadt, die
heiß und stickig unter einem Chloroformwattebausch lag, er erinnert sich an 984
Farben einer einzigen Stimmung, aber das 985te Bild bleibt im Dunkeln. Da war
mal was, da waren einmal zwei Menschen, oder zwei halbe, die sich im letzten
Sommer einredeten sie könnten die Stadt besiegen. Eine Milliarde Gedanken
sollten den Beton mürbe machen und sie frei. Der altersschwache Moloch,
ausgehöhlt und krank von Dummheit und Banalitäten, lag zum Sterben bereit.
Wartete chloroformgetränkt müde und träge auf seine Henker.
Nächtelang zogen Adrian und die
Frau deren Namen er im Dunkeln seines Kopfes verlor durch die Eingeweide der
Stadt, immer auf der Suche nach dem neuralgischstem Punkt im Inneren des
Stadtkörpers. Sie hörten auf zu Schlafen, als sie bemerkten, dass der Schlaf
ihre Wut lähmte und ihnen Träume brachte, die sie nicht verstanden. Wenn es im
Sommer schneit braucht man keinen Schlaf, nie ist der Geist wacher.
Da waren einmal zwei Menschen die
hielten sich für einen; für Nero und Adolf Hitler und Andreas Baader und Jesus
Christus auf einmal. Und übereinandergeblendet wie sie waren, spielten sie im
Schneetreiben; ließen die zu groß gewordenen schwarzen Ecken und Flecken in
ihren Köpfen von den weißen Punkten berieseln. Sie füllten sich immer wieder
auf, um Kraft zu finden, um der Stadt endlich das zu geben, was sie verdiente.
Sie durften nicht schlafen, die Stadt schlief auch nie.
Frage: Was für Spuren
hinterlassen zwei Menschen, die im Sommer mit Schnee spielen bis sie sich
verlieren, auf dem Straßenasphalt?
Frage: Wem gehört die Stimme in
seinem Kopf, die ihn immer wieder fragt, ob er sich an den letzten Sommer
erinnert?
Und wo ist das Bild der Person,
die mit ihm versuchte die Stadt zu besiegen?
Wann fing der letzte Sommer an
zu enden und wann begann der Herbst?
Zu müde, zuviel Bilder, zuviel
Pläne, ein zu kleiner Kopf für zu viele Gedanken. Er erinnert sich, er erinnert
sich an zwei Scheinwerferpaare die zwei Schatten, oder einen oder einen halben
an eine Hauswand werfen, schwarz wie das Innere ihrer Köpfe.
Adrian erinnert sich an diese
Hauswand und wie er sich wunderte, dass dort ein Schatten war. Sie waren doch
so voller klarer Gedanken, wieso fiel das Licht nicht einfach durch sie durch?
Wieso konnten zwei so klare Geister das Licht aufhalten? Wieso brachen sie
nicht das Licht nach ihrem Willen, bündelten es in einem einzigen Punkt und
setzten damit die Stadt in Flammen?
Das letzte an das Adrian sich
erinnert, waren die Namen der Regisseure und Hauptdarsteller eines Roadmovies
die von unten nach oben langsam über eine schwarze Hauswand liefen. Die
Scheinwerfer gingen aus, aber die Schatten blieben an der Wand kleben. Es war
dunkel um ihn herum, Adrian war allein und sah in der Dunkelheit zwei
konturlose schwarze Flächen auf einer Wand, dunkler als die Nacht um ihn herum.
Frage: Wann weiß man, dass ein
Film endet?
Frage: Was sehen 100 Zuschauer
in einem verdunkelten Kinosaal, wenn der Film reißt?
Und wie viele Schatten werfen
100 Menschen auf eine Leinwand?
Adrian schlief ein, er hatte den
Kampf verloren.
Als er, wie es ihm schien, Monate
später wieder aufwachte, konnte er sich nicht mehr an den Namen der Frau
erinnern, die einen Sommer lang mit ihm die Stadt bekämpfte. Sie war nicht da.
Statt dessen nur eine Stimme, die nicht seine ist, die ihn immer wieder fragt:
Erinnerst du dich noch an den
letzten Sommer?